Die Suche nach der großen Verbundenheit
Briefe aus dem Alltag einer Positionslosen
Lieber X,
wo lebst du?
du bist weit weg. Ich will dich in mir nicht verlieren. Schwindest du in mir, schwindet ein Teil
von mir. Ich versuche dich allzeit wiederzubeleben und zwinge mich, dich zu spüren. Dass du
dabei lebst, interessiert mich viel weniger. Ich weiß nämlich nicht wo und ich werde es nie
wissen. Das schmerzt und ängstigt mich sehr. Außerhalb von mir ist deine Existenz eben nur
deine Existenz. Ich kopier‘ dich und pflanz‘ dich sorgfältig in mir ein. Mein verbotener, von
dir geduldeter, wackeliger Besitz. Wie gro.zügig. Wie erniedrigend. Deine Kopie und dein
Leben, ich kann den Unterschied nur erahnen. Ich nutze dein Leben für meine Kopie. Das
erlaubt man mir. Das will ich. Was anderes erlaubt man mir nicht – was anderes kann ich
nicht. Welch‘ eine Lüge um dich.
Lieber X,
Selbstlos
niemand anderes hat deinen Platz eingenommen. Dass du das in Ordnung fändest, macht das
Ungleichgewicht auf einen Schlag ganz deutlich. Aber es gibt mir auch Gewissheit. Und
Vertrauen. Ein bisschen ist es, als wärst du ein Verstorbener. Von denen behauptet man ja
auch immer, sie wollen für die Menschen, die ihnen wichtig waren, nur das Allerbeste. Auch
wenn sie dabei ersetzt werden. Klingt ziemlich fiktiv. Ist es ja auch. Ist unsere Beziehung
auch fiktiv? Macht es dir nichts aus ersetzt zu werden, weil ich für dich fiktiv bin? Wie
könnte ich für dich überhaupt real sein, wenn es immer nur um die Theorie geht? Vermutlich
sind wir auf ähnliche Weise fiktive Theorieobjekte füreinander. Du, als projektive Kopie in
mir und ich, als narratives Problem neben dir. Du hast die Wahl, welchen Platz ich einnehme
und ob ich einen einnehme. Ich hab‘ die Wahl, was ich einfordere. Was ich mir nehme. Du
hast die Wahl, selbstlos zu handeln oder dich ernster zu nehmen als mich. Du hast die Pflicht,
selbstlos zu handeln. Selbst-los. Deswegen bin ich eigentlich allein in dieser Beziehung.
Entweder allein oder in Gefahr. Ich fühle mich so verletzlich. Wie viel Macht hat ein
Verstorbener? Ist das denn so wichtig?
Lieber X,
Deine Logik teilt mich
ich mag dich manchmal nicht. Ich mag dich manchmal nicht, weil du dich nicht so um mich
sorgst. Weil ich erwachsen bleiben muss. Weil Logik etwas Erwachsenes ist und ich
verwirrend wie ein Kind sein möchte. Aus dem Grund bleibe ich hartnäckig verwirrt. Ich
liebe die Logik sehr, sie soll mir dienlich bleiben, sie soll mich kategorisieren und
beschreiben, mich begründen. Wenn ich es brauche. Ich brauche es viel, sonst gehe ich der
Welt verloren. Manchmal ist die Logik aber geizig. Dann reicht auch deine nicht. Dann hasse
ich deine. Ich bin nämlich schon verloren und deine Logik entwirrt mich nicht. Deine Logik
teilt mich. Ich gehe mir dabei verloren. Ich fehle mir.
Lieber X,
Obwohl du gar keine Fäden hältst, das glaub‘ ich sofort
ich zappele. Vor deiner Nase herum. Obwohl du gar keine Fäden hältst, das glaub‘ ich sofort,
hast du mich in deinem Käfig. Eigentlich ist es natürlich mein Käfig. Schienst du nicht so
unbeteiligt, vielleicht würde man dann etwas anderes behaupten. So ist es mit den stillen
Menschen. Die sitzen einem gegenüber, ganz ernst und aufrichtig, ohne ein Wort zu viel.
Aber in Wirklichkeit schleichen sie die ganze Zeit im Raum rum und richten allerlei Dinge
an. (Ich gehör‘ ja auch irgendwie dazu). Trotz Einstein sitz‘ ich im Käfig und fühl‘ mich
schlecht. Ich könnte zu einer Riesenspinne mutieren und dich ärgern. Das würde nichts
ändern. Ich wäre ja trotzdem in meinem Käfig. Denn, falls du auch in einem sitzt, sieht man
ihn nicht. Man ahnt ihn vielleicht. Und weil ich einzig eingesperrt scheine, hast eben du mich
in deinem Käfig. Ich werfe mit Gegenständen auf dich, damit ich dein Gitter hören kann.
Damit du endlich eine Hand durch mein Gitter streckst. Nichts klingt. Du sitzt. Ich find‘ dich
blöd.
Lieber X,
Die Lunge wird trocken
ich weiß nicht wo ich anfangen, wo aufhören soll. Ich will bei jemandem anfangen. Ich muss
bei jemandem anfangen? Aber es funktioniert nicht. Während ich rede, wird mein Atem
staubig. Ich wedle verzweifelt herum – sage mehr – sage weniger, nichts. Versuche durch den
Staub zu gestikulieren, ihn beiseite zu schieben, ihn sein zu lassen. Egal – es wird immer
dichter. Mein Gegenüber sieht dem Staub irritiert zu. Zu mir gehört er nicht mehr.
Erwartungen an einen Sturm oder eine Pfütze. Stattdessen nur mein Körper und der Staub.
Mein Körper füllt sich mit dem Staub, weil ich etwas brauche. Die Lunge wird trocken, das
Atmen wird schwer und generell trockne ich innerlich aus, während ich gleichzeitig brenne.
Und mein Gegenüber sieht dem Staub irritiert zu. Das Leben schaut dem Staub irritiert zu.
Der Alltag schaut zu. Mir nicht.
Liebe X,
Lavendel bin ich also.
Wie schön. Ich finde mich auch lila. Und beruhigend und sanft bin ich obwohl ich das doch
eher selbst brauche. Strahlt man aus, was man am dringendsten erhalten möchte? Und wenn
ja, erhalten im Sinne von aufrechterhalten oder im Sinne von empfangen? Pfingstrosen finde
ich, haben zwar etwas Einladendes aber sie sind zeitgleich so übervoll, dass eigentlich kein
Platz mehr ist. Ich glaube, es wäre unstimmig, wärest du eine Pfingstrose!
Liebe X,
Oder doch lächerlich?
eigentlich wünsche ich mir nur deine Sanftheit. Stimme, Lächeln, offene Augen. So viel
Mutter. So ehrlich. Her majesty, the child. Deine Begeisterung und dein euphorisches nicht zu
überschw.ngliches schönes Ideenfunkeln. Wie du guckst, wenn du ganz lebendig und ruhend
hörst, was ich sage. Wie du mir heimlich eine Freude machst, wie du mich manchmal so gut
kennst und ich dann deine aber auch nur ich bin. Wie du mich einfach nicht kennen willst und
man dir alles im Gesicht und an deinem Körper ablesen kann. Jede Feindseligkeit. Die
Feindseligkeit, die mich zur Bedrohung macht obwohl du die Bedrohung bist. Jede
Enttäuschung, die mich so ängstigt. Drache oder Kälte? Oder doch lächerlich? Gar kein
Problem! Eigentlich weiß ich es immer. wieder nicht. Wie ich dich hasse.
Weil.ich.davon.abhängig.bin. Dass du nur hin und wieder verstehen willst, dass ich ein
eigenes System bin und nicht dein formbarer Abdruck, der ein Eigenleben führt. Zu Diensten:
Wie soll ich dich jetzt erfüllen? Und jetzt? Jetzt? Ach, da habe ich wohl etwas
missverstanden, gezwungenermaßen zu Diensten: Heute zu meinen Diensten! Sag mir
nochmal eben, welche das dann genau wären? Lieber unter meiner Haut, ohne Verwirrung
und ohne Dich. Entwicklung im stillen, antizipierten Vergleich.
Lieber X,
Nicht mal mir zuliebe
wie könntest du mir ferner und vertrauter gleichzeitig sein? Du bist mein, ich bin dein. Still,
vertraut und wir. Wiegend. Du bist eine Enttäuschung. Du fühlst aber blind. Du weißt davon,
aber willst vergessen, das Nicht-sehen zu sehen. Erfolgreich. Nicht mal mir zuliebe. Du bist
eine täuschende und feige Entscheidung. Du Hund. Es tut mir leid, das zu sagen. Ich liebe
dich trotzdem.
Lieber X,
du bist nicht
natürlich fühlt sich gar nichts an. Nichts entsteht. Immer wieder renne ich und stoße mir den
Kopf blutig. Ich bin besessen. Aber du bist nicht die Person. Niemand ist diese Person aber
manche machen Kompromisse zu tragfähigen Wellen. Deine Kompromisse haben nichts mit
mir zu tun. Das ist ja nichts, was durch allgemeine Prinzipien ruhig zu stellen wäre. Das ist ja
so etwas wie meine Lebensaufgabe.
Liebe, liebe,
In mir, mich, bist du eigen
ich möchte mich kurz melden. Dir sagen, dass ich dich noch sehe und dass du gar nicht
einfach so verschwinden kannst. Du brauchst auch gar keine Erfüllung. Du bist es schon!
Dich zu erfahren, durch dich zu erinnern und zu träumen, mich durch dich wiederzuerkennen
und zu fühlen, was für ein außergewöhnliches Geschenk du bist. Und sicher haben dich
wenige Menschen. Und wenn auf eine ganz eigene Art. In mir, mich, bist du eigen. Das macht
dich so besonders und so unfassbar und das muss gar nicht heißen, dass du mich von anderen
trennst. Eigentlich bist du eine Verbindung zur Welt. Sehr mächtig, sehr eigen, von
gewaltiger Schönheit, auch angsteinflößend. Eine gruselige Resonanz, eine reißende
Identifizierung weil ich mir nicht sicher bin, ob das nur ich bin oder vielleicht sogar die Welt.
Ich wünsche mir, es ist die Welt. Ist es die Welt, bin ich es auch. Bin ich es, ist es nicht
zwangsweise die Welt?
Liebe X,
Die Welt, das war ich.
ich wünsche mir, dass du mir wieder vertraut wirst. Dass ich mich wieder in dir erkenne. Dass
du mich wieder in dir aufnimmst. Ich sein kann, in dem was ich wahrnehme. Meine
Wahrnehmung und was ich darin sehe, übereinstimmen. Fühle, die Welt, das bin auch ich.
Welt, du bist die Andere. Trotzdem kannst du für mich nur ich sein. Wegen mir. Das macht es
schmerzhaft. Ich bin es also, nicht du, Welt. Ich verzerre dich, so dass du nicht mehr zu mir
passt. Fern, vergangen, dunkel, fremd, zeitlos, bedrohlich, endlos, voll von stillem Grauen.
Ich mache dich dazu. Ich bin es also. Ich mache mir die Welt, wie sie mir nicht gefällt.
Trennung von dir du Fremde, du solltest für mich da sein. Trennung von meinem eigenen
Ausdruck. Denn klar, ich kann nur mich in dir sehen. Die Welt, der Spiegel. Die Welt, was
mein Gehirn konzipiert. Will ich also mich nicht sehen? Die Fremde in mir aber, kann ja nur
entstehen, wenn sie zuallererst mit „der Welt“ nicht kongruiert. Das Fremde in mir, trennt
mich von der Welt. Lieber also die fremde Welt? Was ist wichtiger? Einheit oder
Zusammengehörigkeit? Inneres oder Äußeres? Ist das zu trennen? Ist eine Mutter die Welt?
Einheit lässt sich nicht brechen. Solange du nicht anerkennst, dass ich das Fremde in mir
habe, kann ich es nicht annehmen. Solange du meine Fremdheit übersiehst, kann ich mich
nicht erkennen. Kann ich der Welt, also mir, nicht glauben. Nicht trauen.
Die Welt, das war ich.
Marisa Bockstahler